11. Diskussionsrunde des Arbeitskreises Policey/Polizei im vormodernen Europa = gemeinsame Tagung des Arbeitskreises „Historische Kriminalitätsforschung“ und des Arbeitskreises „Policey/Polizei im vormodernen Europa“ mit dem Max-Planck-Institut für Europäische Rechtsgeschichte und der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart am 19. bis 21. Juni 2008 in Stuttgart-Hohenheim
Politische Kriminalität und politische Justiz
vom späten Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert
Tagungsprogramm
14.00 Begrüßung und Vorstellungsrunde
14.45
Karl Härter (Frankfurt) / Gerhard Sälter (Berlin)
Politisches Verbrechen und politische Justiz zwischen Spätmittelalter und Moderne. Einleitende Bemerkungen zum Tagungsthema
Spätmittelalter und frühe Neuzeit
Leitung: Gerd Schwerhoff
15.15
Karl Härter (Frankfurt):
Vom Majestätsverbrechen zum Staatsschutz:
Politische Kriminalität, Reaktionen der Rechtssysteme und ihre mediale Repräsentanz im vormodernen Europa
16.15 Pause
16.45
Niels Grüne (Bielefeld):
Korruption zwischen Normverstoß und politischer Denunziationsfigur.
Umrisse eines Forschungsprojekts zur Frühen Neuzeit
17:45
Johannes Dillinger (Oxford):
Gift und Feuer. Politisch motivierte Angriffe auf die Zivilbevölkerung im Mittelalter und der Frühen Neuzeit
18:45 Ende des ersten Tages
Freitag 20. Juni
Frühe Neuzeit und 19. Jahrhundert
Leitung: Eva Wiebel
9.00
Angela Rustemeyer (Heidelberg):
Reguläre Armee und verbale Majestätsbeleidigung im Rußland Peters des Großen
10.00
Sven Korzilius (Berlin):
Der Prozeß gegen die „Conspiração dos Alfaiates” (Salvador da Bahia, 1798) als Beispiel für politische Justiz am Ende des Ancien Régime
11.00 Pause
11.30
Urs Germann (Bern/Frankfurt am Main):
Das „Rendez-vous der internationalen Dynamitbande“.
Die „Anarchistengefahr“ im Visier von Justiz und politischer Polizei in der Schweiz, 1885–1914
12.30 Mittagspause
19. und 20. Jahrhundert
Leitung: Gerhard Sälter
14.00
John Zimmermann (Potsdam):
Vom „Irrsinnigen“ zum „Märtyrer“ und „Helden“.
Der Fall Friedrich Adler 1916-1918
15.00
Jenny Pleinen (Trier):
Verfolgung faschistischer Kollaborateure und Question royale:
Konflikte um die (Re-)Etablierung legitimer Staatlichkeit und politischer Ordnung nach dem Zweiten Weltkrieg am Beispiel Belgiens
16.00 Pause
Ostdeutschland im 20. Jahrhundert
Leitung: Karl Härter
16.30
Gerhard Sälter (Berlin):
Interne Schauprozesse.
Über exemplarisches Strafen und seine politische Instrumentalisierung in der DDR in den fünfziger Jahren
17.30
Ulrich Huemer (Berlin/Potsdam): „
6 Monate musst Du auf einer Arschbacke absitzen!“
Über den Umgang mit dem politischen Strafrecht am Beispiel der DDR-Opposition in den achtziger Jahren
18.30 Abendessen
19.30 Information und Planungen
20.15 Ende des zweiten Tages
Samstag 21. Juni
Freie Sektion – Werkstattberichte
Leitung: Dieter Bauer
9.00
Katrin Moeller (Halle):
Schafft Rache Recht?
Diskurse über Rechtsgebrauch und Gerechtigkeit in kleinstädtischen Hexenprozessen
9.45
Christine D. Schmidt (Münster):
Von Macht und Ohnmacht.
Die öffentliche Kirchenbuße am Beispiel der Fürstbistümer Münster und Osnabrück im 17. und 18. Jahrhundert
10.30 Pause
11.00
Jørgen Mührmann-Lund (Aalborg):
Die ”Unordnungen” in Säby.
Aufruhr, Auflauf und Policey im spätabsolutistischen Dänemark
11.45
Martina Henze (Kopenhagen):
Auf der Tagesordnung: Kriminalität.
Internationale Organisationen 1870-1955
12.30 Mittagessen und Ende der Tagung
Tagungskosten
mit voller Verpflegung und Übernachtung
- im Einzelzimmer 111,00 €
- im Doppelzimmer 101,50 €
- Studierende/Arbeitslose (nur DZ) 77,00 €
- ohne Übernachtung u. Frühstück 55,00 €
- Studierende/Arbeitslose 45,00 €
Tagungsort
Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart, Tagungszentrum – Stuttgart-Hohenheim –
Paracelsusstraße 91
70599 Stuttgart
Anmeldung und Rückfragen
Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart
Referat Geschichte: Kerstin Hopfensitz M.A.
Im Schellenkönig 61, D-70184 Stuttgart
Tel: +49 711 1640-752;
Fax: +49 711 1640-852
E-Mail: Hopfensitz@akademie-rs.de
Themenexplikation
Politische Kriminalität und politische Justiz haben eine lange Geschichte: Einzelne oder Gruppen haben immer wieder versucht, insbesondere mittels gewaltsamer Handlungen wie Attentaten, Umsturzversuchen oder Aufständen, einen Herrscher, eine herrschende Elite oder einer Herrschaftsordnung zu beseitigen. Solche Angriffe auf Herrschaftsträger, die Obrigkeit oder den Staat wurden meist unabhängig davon, ob sie politisch, religiös oder durch Machtkonkurrenz motiviert waren, als besondere Form von Kriminalität wahrgenommen und z. T. auch mit besonderen Strafen bedroht. Die Strafjustiz ahndete jedoch nicht nur solche Versuche, sondern wurde ihrerseits häufig instrumentalisiert, um gegen Konkurrenten, politische Gegner und Opponenten vorzugehen: auch Herrschaftsträger oder der Staat konnten gerade mittels einer politischer Justiz politische Verbrechen begehen. Bezieht man beide Formen der politischen Auseinandersetzung aufeinander, werden Elemente politischer, weltanschaulicher und religiöser Diskurse sichtbar, die, wenn auch mit ungleichen Mitteln und Chancen, von beiden Seiten häufig gewaltförmig um die Gestaltung politischer Ordnung und den Zugang zur Macht geführt wurden.
Seit dem späten Mittelalter dehnte der frühmoderne Staat in Europa Normsetzung und Justiz auf weite Bereiche der Gesellschaft, deren Ordnung er normierte und garantierte. Parallel hierzu differenzierte sich Politik als eigenständiger Handlungsraum aus. Reformation und Konfessionalisierung brachten zudem eine enge Symbiose staatlich-herrschaftlicher und religiös-kirchlicher Ordnung. Damit erhielt politische Kriminalität eine neue Dimension: Nicht nur unmittelbar gegen den Herrscher oder die Herrschaftselite gerichtete, meist gewaltsame Handlungen, sondern auch Widerstand gegen die obrigkeitliche Einflussnahme, sowie politische und religiös-konfessionelle, oppositionelle bzw. deviante Handlungen bzw. politisch und religiös-konfessionelle Dissidenz konnten als spezifisch politische, gegen die Ordnung der Gesellschaft gerichtete Verbrechen eingestuft werden, weil sie die Legitimität von Herrschaft in Frage stellten. Einzelne Dissidenten wie ganze Gruppen bedienten sich zudem seit dem 16. Jahrhundert aus politischen Motiven heraus bewusst krimineller Handlungen, um mittels (gewaltsamer) Verbrechen eine politische Umgestaltung zu erreichen oder unter Inkaufnahme einer Strafe ein Zeichen zu setzen.
Bis zum Ende der Frühen Neuzeit bildeten sich folglich zentrale Elemente politischer Kriminalität und politischer Justiz heraus: a) die explizit politische Motivation und die symbolische Qualität des Verbrechens auf Seiten der Dissidenten, b) die Etikettierung widerständiger politischer oder religiöser Handlungen als politisches Verbrechen durch den Staat, mit dem Ziel, die Gesellschafts- und Herrschaftsordnung bzw. den Staat selbst zu schützen, und c) durch Obrigkeit und Staat insbesondere mittels einer „politischen“ Justiz begangene Verbrechen.
Staatsschutz beschrankte sich insofern nicht nur auf eine normative bzw. diskursive Definition politischer Verbrechen und die Verfolgung devianter bzw. krimineller Handlungen, die auf den politischen Raum, die gesellschaftliche Ordnung oder auf den Herrscher, die Obrigkeit bzw. den Staat zielten, sondern widmete sich darüber hinaus vielfach der Verfolgung politischer Gegner. In diesem Kontext entwickelte bereits der frühmoderne Staat eine breite Palette an Staatsschutztechniken: von der Zensur über Denunziation und Spitzelwesen bis zur (gerichtlichen) Folter und politischen Strafverfahren. Die Veränderung der Staatsorganisation seit 1789 brachte eine Ausdifferenzierung sowohl bezüglich der staatlichen Definitionen, Institutionen und der Prozesspraxis im Staatsschutz und der politischen Justiz als auch hinsichtlich der auf Veränderung bzw. gewaltsamen Umsturz der Herrschaftsordnung zielenden Dissidenten und Oppositionellen, ihrer Motive und Handlungsformen.
Erwünscht sind Beitrage, die sich den verschiedenen Formen politischer Kriminalität, den damit verbundenen staatlichen bzw. obrigkeitlichen Ordnungsvorstellungen, der Rolle der Öffentlichkeit und der medialen Vermittlung, sowie den Konzepten und Techniken der politischen Justiz widmen und nach Möglichkeit die gegenseitige Bezogenheit von politischer Kriminalität und politischer Justiz thematisieren, beispielsweise:
Formen politisch motivierter oder definierter Kriminalität (Fallstudien zu Formen oder Einzelfällen)
- Attentate auf einen Herrscher
- Angriffe auf Amtsträger oder Amtsgebäude
- Umsturzversuche, Verschwörungen zu diesem Zweck (z.B. Machtkampfe in der vormodernen Stadt, Auseinandersetzungen von Adelsparteien, Chouans, Corbonari, Anarchisten)
- Vorbereitungen einer Revolution, Agitation dafür
- tätliche oder verbale Angriffe auf öffentliche bzw. staatliche Institutionen
- Bezugnahme auf die Öffentlichkeit: Rolle von Agitation, Propaganda und der Medien
- Spezifische „Begehungsformen“ und Ziele: Widerstand, Gewalt, Angsterzeugung, symbolische Handlungen, Zielobjekte (Personen, „staatliche Einrichtungen“)
- Rolle von Frauen im Feld politischer Kriminalität
- Bezugnahme auf Symbole, Inszenierungen und Rituale
- Verbreitung abweichender oder legitimitätsgefährdender Meinungen
Motive, Definitionen, Diskurse und Zuschreibungen
- Staatsverbrechen als Widerstand und Selbstermächtigung
- Normative Definition und diskursive Ausformung politischer Verbrechen bzw. der Verbrecher
- Bedrohungsszenarien und Konstruktion von Gruppen (von Sekten über Geheimgesellschaften bis zu Organisationen der Arbeiterbewegung)
- Rechtfertigungsdiskurse (z.B. im Rahmen der konfessionellen Auseinandersetzung des Ancien Regime, etwa seitens der Monarchomachen)
- normative Kategorien in legitimierenden Diskurse (z.B. Gerechtigkeit, Ordnung, göttlicher Wille)
- Wahrnehmung von Frauen als Akteure, bzw. Taterinnen
Politische Justiz zwischen justitiellem Staatsschutz und illegitimer Verfolgung
- Techniken der Kontrolle und der Verfolgung politischer Verbrechen und Verbrecher, spezifische Verfahren und Prozessformen (inkl. Folter), Urteile
- Fallstudien zu politischen Prozessen unter besonderer Berücksichtigung der Motive und Gründe der Verfolgung (Machtakkumulation, Herrschaftskonkurrenz, Vergeltung, Rache)
- Herausbildung von „Sicherheit“ als Ergebnis von Staatsschutz und Verfolgung
- politisch intendierte Prozesse und „Schauprozesse“ gegen politische Opposition
Gewalt im Herrschaftsdiskurs – Reziprozität der Motive?
- Kongruenzen, Differenzen, und Reziprozitäten in den Beweggründen für weltanschaulich (politisch und religiös) motivierte Verbrechen und für politisch motivierte Verfolgung von Devianz
- methodische Zugangsweisen für den Vergleich beider Phänomene
- Ruckwirkungen gewaltförmiger politischer Diskurse auf das Rechtssystem
freie Sektion: Forschungen und Projekte zur Historischen Kriminalitätsforschung
Die Tagung ist interdisziplinär ausgerichtet, neben der Geschichte und Rechtsgeschichte sind ausdrücklich Beitrage u.a. aus den Fächern Literaturwissenschaften, Anthropologie, Soziologie, Rechtswissenschaften, Ethnologie, Politologie eingeladen, sich an der Tagung zu beteiligen.