8. Diskussionsrunde des Arbeitskreises Policey/Polizei im vormodernen Europa
gemeinsam mit der 15. Tagung des „Arbeitskreises Historische Kriminalitätsforschung“
vom 9. bis 11. Juni 2005
Criminal-Bilder und Sicherheitsdiskurse
Kriminalität, Sicherheit und Strafe in der Repräsentation öffentlicher Diskurse (15.-20. Jahrhundert)
gemeinsame Tagung der Arbeitskreise ‚Historische Kriminalitätsforschung‘ und ‚Policey/Polizei im vormodernen Europa‘ in Kooperation mit der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart in Verbindung mit dem Max-Planck-Institut für Europäische Rechtsgeschichte/Frankfurt am Main in Stuttgart-Hohenheim, 9.-11.6.2005
Devianz und (Straf-)Justiz schlagen sich nicht einfach in Akten nieder, sondern sind Gegenstand öffentlicher Diskurse; sie werden in Bildern verdichtet und in populären Darstellungen verarbeitet. Mediale Vermittlungen bestimmen die Wahrnehmung von Devianz und Recht, den Umgang mit dem Rechtssystem, das „Sicherheitsempfinden“ und letztlich auch Sicherheitspolitik und Justizpraxis. Die gemeinsame Tagung der Arbeitskreise „Historische Kriminalitätsforschung“ und „Policey/Polizei im vormodernen Europa“ vollzieht erstmals interdisziplinär und epochenübergreifend den „visual turn“ in der Policey- und Kriminalitäts-forschung. An einer breiten Palette exemplarischer Themen untersuchen HistorikerInnen, JuristInnen, Literatur- und MedienwissenschaftlerInnen Funktion, Wandel und Wirkung medial vermittelter Diskurse vom späten Mittelalter bis zur Zeitgeschichte.
Besondere Schwerpunkte bilden dabei die „innere Sicherheit“ und das Problem, wie Bilder und Diskurse das „Sicherheitsempfinden“, Anforderungen an das bzw. den Umgang mit dem Rechtssystem, aber auch das Handeln des Staates beeinflussen.
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Krimi_Policey_2005.pdf (314 KB)
Programm
Donnerstag, 9. Juni 2005
14.00 Uhr
Begrüßung und Vorstellungsrunde
BILDER VON DEVIANZ IN DER FRÜHEN NEUZEIT
Moderation: Prof. Dr. Gerd Schwerhoff, Dresden
14.30 Uhr
Criminalbilder und Sicherheitsdiskurse. Einführung
Priv.-Doz. Dr. Karl Härter, Frankfurt a.M.
15.20 Uhr
Hexerei: Wie Aberglaube als Machtinstrument benutzt werden kann Bilder medial erzeugter und vermittelter Devianz
Dr. Isabelle Deflers, Heidelberg
16.10 Uhr
Kaffee / Tee
16.30 Uhr
Übergriffe des Militärs auf die Bevölkerung im 17. Jahr-hundert Bilder militärischer Kriminalität aus unterschiedlichen Perspektiven
Jan Willem Huntebrinker, Dresden
17.20 Uhr
Sicherheitsdiskurse im Schwäbischen Kreis im 18. Jahrhundert
Prof. Dr. Gerhard Fritz, Schwäbisch Gmünd
18.30 Uhr
Abendessen
Tagesausklang in der Trinkstube
Freitag, 10. Juni 2005
8.00 Uhr
Frühstück
KRIMINELLE BIOGRAPHIEN?
LITERARISCHE UND POPULÄRE BILDER VON „VERBRECHERN“
Moderation: Priv.-Doz. Dr. Karl Härter, Frankfurt a.M.
9.00 Uhr
Gespräche in dem Reiche der Toten unter den Spitzbuben
Literarische Bilder krimineller Karrieren im frühen 18. Jahrhundert
Priv.-Doz. Dr. Holger Dainat, Hagen
9.50 Uhr
Armesünderblätter
Prof. DDr. Gerhard Ammerer / Friedrich Adomeit M.A., Salzburg
10.40 Uhr
Kaffee / Tee
11.00 Uhr
Vaterlosigkeit, Vatersuche Literarische Bilder eines Deutungsmusters für männliche Devianz
Dr. Joachim Linder, München
11.50 Uhr
Gewaltdarstellungen in der Presse der Weimarer Republik, dargestellt am Beispiel des Falles Fritz Haarmann (1924)
Kathrin Kompisch M.A., Hamburg
12.40 Uhr
Mittagessen
DISKURSIVE KONSTRUKTIONEN VON SICHERHEITSBEDROHUNGEN
Moderation: Eva Wiebel, Konstanz
14.30 Uhr
Denunziation als Bestandteil von Sicherheitsdiskursen Politische Polizei in Preußen zur Zeit der Demagogenverfolgungen
Jakob Nolte, Berlin
15.20 Uhr
Sind Streikende Verbrecher?
Kriminalitätsvorstellungen in der politischen Auseinandersetzung um polizeiliche Identifikationstechniken in der Schweiz, 1890–1930
Nicole Schwager, Lic.phil., Zürich
16.10 Uhr
Kaffee / Tee
16.30 Uhr
Der Vagabund
Diskursive Konstruktionen eines Gefahrenpotentials im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert
Dr. Beate Althammer, Trier
17.20 Uhr
Unheilvolle Kontinuitäten
Das Täterbild des „gefährlichen Gewohnheitsverbrechers“
Kathrin Sander, Frankfurt a.M.
18.30 Uhr
Abendessen
19.30 Uhr
Informationen und Planungen
Samstag, 11. Juni 2005
8.00 Uhr
Frühstück
BEDROHUNGSSZENARIEN DER INNEREN SICHERHEIT
IM 20. JAHRHUNDERT
Moderation: Dr. Gerhard Sälter, Berlin
9.00 Uhr
Kriminalitätsbilder und -deutungen in der Krise
Wohlstandskriminalität, Gammler und andere Bedrohungen der frühen Bundesrepublik (1950–1970er Jahre)
Dr. Herbert Reinke, Berlin
9.50 Uhr
Der Wandel sicherheitsrechtlicher Dogmatik am Beispiel der Erweiterung des Sicherheitsbegriffs um Elemente der Prävention und des Sicherheitsgefühls
Dr. Matthias Kötter, Berlin
10.40
Kaffee / Tee
WERKSTATTBERICHTE (OFFENE SEKTION)
Moderation: Dieter R. Bauer, Stuttgart
11.00 Uhr
Ehrenkränkungen im Spiegel von Polizeiakten
Das Beispiel Schwäbisch Hall Mitte des 19. Jahrhunderts
Esther Schinke M.A., Frankfurt a.M.
11.50
Die Geldbußensysteme der Städte Schaffhausen und Konstanz im Spätmittelalter
Kaspar Gubler, Lic.phil., Zürich
12.40 Uhr
Mittagessen und Tagungsende
Tagungsleitung
Dieter R. Bauer, Stuttgart
Priv.-Doz. Dr. Karl Härter, Frankfurt a.M.
Dr. Gerhard Sälter, Berlin
Prof. Dr. Gerd Schwerhoff, Dresden
Eva Wiebel, Konstanz
Themenexplikation
Devianz und (Straf-)Justiz schlagen sich nicht einfach in Akten nieder, sondern sind Gegenstand öffentlicher Diskurse, sie werden in Bildern verdichtet und in populären Darstellungen verarbeitet. Mediale Vermittlungen bestimmen die Wahrnehmung von Devianz und Recht, den Umgang mit dem Rechtssystem, das „Sicherheitsempfinden“ und letztlich auch Sicherheitspolitik und Justizpraxis. Die öffentliche Darstellung und Wahrnehmung von Kriminalität stimmt dabei nicht immer (oder nur selten?) mit der „tatsächlichen“ Bedrohung überein, die von ihr ausgeht. Das Sicherheitsgefühl zu einer bestimmten Zeit ist ein Ergebnis von Einstellungen, Wahrnehmungen und Diskursen, die Bilder von Kriminalität hervorbringen und Anschauungen prägen. Außerdem sind verschiedene soziale Gruppen in unterschiedlicher Weise von Kriminalität betroffen und nehmen sie zudem nicht auf gleiche Weise wahr. Die Diskurse sind demnach sozial und medial strukturiert. Die verfügbaren Informationen über Kriminalität und Strafe werden je nach der sozialen Situierung und dem jeweiligen Zugang zu Medien von verschiedenen Bevölkerungsgruppen unterschiedlich wahrgenommen und verarbeitet.
Bilder von und Diskurse über Kriminalität thematisieren nicht nur das Problem der öffentlichen Sicherheit. Sie sind eng verknüpft mit Vorstellungen von der Ordnung, die in einer Gesellschaft herrschen sollte, und das Rechtssystem, das diese gewährleisten soll. Das individuelle und kollektive Sicherheitsempfinden entsteht somit in öffentlichen Diskursen über soziale Ordnung und Devianz, Kriminalität und Strafe sowie die zur Verbrechensbekämpfung eingesetzten Apparate, Personen und Maßnahmen.
Die neuere Forschung hat den Zusammenhang zwischen medial vermittelter Wahrnehmung von Kriminalität und Recht zwar herausgearbeitet, die (Kriminalitäts-)Geschichte ist aber dem in der Geschichtswissenschaft verstärkt Beachtung findenden „visual turn“ bislang bestenfalls zögerlich gefolgt und hat entsprechende „Bilder“ vorwiegend additiv kompiliert. Die Frage der Funktion und Wirkung medial vermittelter Diskurse und ihrem interdependenten, ambivalenten Verhältnis zu dem Bild der „Kriminalakten“ ist folglich noch kaum ausgelotet oder gar zu einem für historische Devianz- und Ordnungsforschung operationalisierbaren medientheoretischen Modell verdichtet worden.
Der gemeinsam von den beiden Arbeitskreisen organisierten Tagung ist zum Ziel gesetzt, die Entstehung, Veränderung und Wirkungsmacht solcher Diskurse seit dem Ende des Mittelalters zu thematisieren und zu diskutieren. Besonderes Gewicht wird dem Wandel dieses Diskurses seit dem 18. Jahrhundert beigemessen, seit öffentliche Debatten im Themenfeld Ordnung/ Devianz/ Strafe ersetzt und gebündelt wurden durch die Diskussion um das Thema „innere Sicherheit“. Willkommen sind Beiträge, die sich mit den im folgenden angerissenen Problemen in Europa und Nordamerika befassen; einen Schwerpunkt wird die Entwicklung im deutschen Sprachraum bilden. Erwünscht ist die Beteiligung anderer Fachdisziplinen, wie Sprach-, Literatur- und Medienwissenschaft, Rechtswissenschaft, Soziologie und Kriminologie, Ethnologie, Volkskunde und Anthropologie.
Akteure
Das erste Problem betrifft die Akteure dieser Diskurse: Wer thematisiert und vermittelt Fragen von Kriminalität und innerer Sicherheit? Prinzipiell können hierbei die Beteiligung verschiedener Bevölkerungsgruppen, Akteure der Obrigkeit und aus den Macht- und Sicherheitsapparaten sowie die Medien thematisiert werden. Welche Interessen lassen sich bei der Thematisierung jeweils feststellen? Wer bzw. welche Gruppen beteiligten sich an Diskussionen um die innere Sicherheit? Wer kritisierte bestimmte Maßnahmen und mit welchen Argumenten? Ab wann und vom wem wird ein zu starker Machtzuwachs des Staates bzw. von überlokalen Sicherheitsorganen kritisiert? Ab wann und in welcher Form beteiligen sich die entstehenden Gesellschaftswissenschaften an dem Diskurs?
Medien und ihre Produzenten
In welchen Medien werden Bilder von Kriminalität verbreitet und vermittelt? Hierbei wäre zu denken an populäre Medien wie illustrierte Flugblätter bzw. Flugschriften, Gemälde, Zeitungen und Zeitschriften oder Romane, an autoritative/ offiziöse Medien wie obrigkeitliche Normtexte, „Staatsschriften“, Kalender und wissenschaftliche Literatur sowie schließlich an moderne Massenmedien wie Hörfunk, Film und Fernsehen, in denen Ordnung und Abweichung definiert werden. Ein besonders Augenmerk muß dabei auch den Produzenten der Diskurse bzw. Medien, ihren ambivalenten Interessen und den jeweiligen Produktions- und Verbreitungsbedingungen zukommen. Zudem wäre zu fragen, ob und wie sich verschiedene Medien in diesem Diskurs sich aufeinander beziehen. Wie reagieren mündlich geführte Diskurse, soweit diese sich in Sekundärüberlieferungen fassen und beschreiben lassen, auf die offiziell und durch die Medien propagierten Bilder von Kriminalität?
Repräsentation
Im dritten Themenfeld wäre nach der Semantik bzw. der Bildsprache zu fragen, in denen Bilder von Kriminalität vermittelt werden. Wie entwickeln sich solche Semantiken und in welcher Weise werden sie eingesetzt, um bestimmte Effekte zu erreichen? Welche Bedürfnisse werden damit angesprochen/befriedigt? Lassen sich Zuschreibungsprozesse ausmachen, in denen bestimmte Bevölkerungsgruppen ausgegrenzt oder Verhaltensweisen diskriminiert werden? Welche Bedeutung und Funktion kommen dabei Geschlechterstereotypen und anderen sozialen Merkmalen zu. Wie werden solche Prozesse der Kriminalisierung, die mit einer Veränderung sozialer Normen einhergehen, sprachlich und bildlich umgesetzt? Wie werden Randgruppen dargestellt, ihr Bedrohungspotential visualisiert; wie werden „Problemgruppen“ konstruiert? Wie wird „der Verbrecher“ dargestellt? Welche Rolle spielen Vorstellungen von organisierter oder von politisch induzierter Kriminalität?
Rezeption
Schließlich wäre zu fragen nach der Rezeption und der Verarbeitung der Diskurse. Wie wird die Veränderung gesellschaftlicher Normen durch- und umgesetzt? Wie wirken bestimmte Sicherheitsdiskurse und bestimmte Themen auf das Normverständnis bestimmter Bevölkerungsgruppen und die Anforderungen an bzw. den Umgang mit dem Rechtssystem? Werden bestimmte Diskussionen zielgerichtet geführt und mit welchem Erfolg? Die Frage nach der Rezeption betrifft nicht nur die breite Bevölkerung, sondern auch die Obrigkeit, denn diese reagiert auf in der Öffentlichkeit verbreitete Vorstellungen und medial/diskursiv artikulierte Bedürfnisse nach Sicherheit und Ordnung wiederum mit Veränderungen von Normen, einem Auf-, Aus-, Um- oder Abbau bestimmter Sicherheitsapparate.
Wandel
Ergeben sich in der longue durée Veränderungen im Feld der Akteure, bei der Repräsentation in den Medien und in der Rezeption? Worin unterscheiden sich sicherheitspolitische Überlegungen vor und nach der Epochenschwelle – vor dem Hintergrund sozialer Veränderungen, der Entstehung von Nationalstaaten und der politischen Einflüsse der Revolutionsepoche aus Frankreich?
Sammelband: