5. Treffen

5. Diskussionsrunde
des Arbeitskreises Policey/Polizei im vormodernen Europa
am 25. April 2002

Legislationspraxis in der Vormoderne.
Zur Entstehung und Publikation von Policeygesetzen

Programm

Sektion I: Entstehung von Normen: Kommunikation im Vorfeld eines Legislationsaktes

Johannes Mordstein, Augsburg:
Ein langer und mühsamer Weg. Die Judenschutzbriefe der Grafschaft Oettingen vom Schutzverlängerungsgesuch der Judenschaft bis zur Unterschrift desLandesherren

als e-Publikation: PoliceyWorkingPapers 2 (2002)

Lars Behrisch, Bielefeld:
Die Lippischen Landesverordnungen des 18. Jahrhunderts als Schnittpunkt unterschiedlicher Kommunikationskreisläufe

Sektion II: Entstehung, Sprache und Publikation von Gesetzen

Achim Landwehr, Augsburg:
Rhetorik der „guten Policey“

publiziert als: Achim Landwehr: Die Rhetorik der „guten Policey“, in: Zeitschrift für Historische Forschung 30 (2003), S. 251-287.

Karl Härter, Frankfurt:
Gesetzgebungsprozeß und gute Policey: Entstehungskontexte, Publikation und Geltungskraft frühneuzeitlicher Policeygesetze

als e-Publikation: PoliceyWorkingPapers 3 (2002)

Gunter Mahlerwein, Mainz und Gimbsheim:
Normentstehung und -publikation in der Reichsstadt. Beobachtungen am Beispiel Worms im 18. Jahrhundert

als e-Publikation: PoliceyWorkingPapers 1 (2002)

Themenexplikation

I.

Das Arbeitstreffen hat die Policeygesetzgebung im weiten Sinne und damit die Gesamtheit des gesetzten Rechts in der frühen Neuzeit zum Thema. Policeygesetze unterscheiden sich vom älteren Recht in drei Punkten. Erstens wurden (trotz vielfältiger Überschneidungen) im wesentlichen andere Materien als im Zivil- und Strafrecht reguliert. Zweitens berufen sich die Normen als Basis ihrer Legitimität formal auf das obrigkeitliche Gesetzgebungsrecht, ohne daß eine Initiative oder Antrag vorliegen müßte, und inhaltlich auf das Gemeinwohl als Zweck. Drittens sind sie eng mit der im Ancien Régime entstehenden und sich ausdifferenzierenden Verwaltung verknüpft, die Anstoß zu vielen Regulierungen gegeben hat, deren Funktionen und Kompetenzen durch Policeygesetze definiert wurden und die sich damit parallel zu dieser Form der Gesetzgebung entwickelte. Das Policeyrecht bestimmt Rechte, Pflichten und Privilegien der als Untertanen verstandenen Menschen in bezug auf Individuen, Gemeinschaften, Korporationen, Gesellschaft und Staat. Es definiert damit soziales Verhalten und soziale Ordnung.

Die Reichweite dieser mit Fortschreiten der Epoche intensiver und zentraler erfolgenden Gesetzgebung ist seit einigen Jahren in der Forschung umstritten. Während zuvor Effizienz und disziplinierende Wirkung betont wurden, sind dem im Wesentlichen zwei Gegenargumente entgegengehalten worden. Einerseits wurde betont, daß eine wie auch immer geartete Normeffektivität sich erst im Kontext von weitgehend autonom und lokal generierten Regeln entwickeln und der Gesetzgeber sich gegen lokale Amtsträger und Behörden durchsetzen mußte, die ebenfalls häufig unabhängig von den vorgesetzten Instanzen agierten. Auf der anderen Seite wurde argumentiert, daß die zunehmende Flut obrigkeitlicher Normen auch von der Intention her weniger auf Befolgung zielten als auf symbolische Darstellung eines souveränen Herrschaftsanspruchs.

Beide Argumente rücken die Durchsetzung und Aneignungsformen von Normen in den Mittelpunkt. Fraglich ist jedoch darüber hinaus, ob die erlassenen Normen so souverän zustande kamen, wie es in der symbolischen Kommunikation von Herrschaft im Ancien Régime dargestellt wurde. Des weiteren stellt sich die Frage nach der Praxis der Publikation von Gesetzen, da Normkenntnis die erste Bedingung der Befolgung ist. Diese beiden Kommunikationsprozesse im Vorfeld und im Nachgang des Legislationsaktes sollen Thema des Arbeitstreffens sein. Zu berücksichtigen wird sein, daß als Autoren von Policeygesetzen eine Vielzahl von Instanzen in Frage kommen: Landesherren, Seigneurs, Städte, Korporationen, Gerichte, Behörden und Amtsträger.

II.

Auf der einen Seite sind zur Entstehung von Normen Instanzen und Kommunikation im Vorfeld eines obrigkeitlichen Legislationsaktes zu diskutieren. Von besonderem Interesse dürfte dabei die Kommunikation zwischen verschiedenen Instanzen auf unterschiedlichen sozialen Ebenen im Gesetzgebungsprozeß sein. Mögliche Fragen für die einzelnen Beiträge aus diesem Komplex sind die folgenden:

  • Welche Rolle spielten die Untertanen bei der Entstehung eines Gesetzes entweder als Initiatoren oder in der Ausgestaltung von Gesetzestexten beispielsweise durch Suppliken?
  • In welcher Form wurden untere Verwaltungsinstanzen in die Vorbereitung und die Produktion von Policeyordnungen einbezogen, etwa durch Befragungen, Enqueten oder durch Berücksichtigung ihrer Berichte?
  • Welche Rolle spielten Ratsgremien am Hof, die Stände, Juristengremien und Obergerichte?
  • Wurden bestimmte Instanzen systematisch einbezogen oder nur gelegentlich bei speziellen Materien?
  • Bestand ein Unterschied zwischen der Entstehung von Einzelverordnungen und der Genese von umfassenden Ordnungen?
  • In welchen Formen (Sprachduktus, rhetorische Formeln, Textgestaltung) wurde in Gesetzestexten auf die Öffentlichkeit bezug genommen, wie wurde Legitimität reklamiert und welche Rolle spielten Aspekte der Repräsentation?
  • Wie wurde praktisch in der Gestaltung der Normen und sprachlich in den Texten auf das Herkommen, die Tradition bezug genommen?
  • Wie wurden ungeschriebenes Recht, informelle Regeln und lokale Besonderheiten berücksichtigt und auf wessen Initiative hin?
  • Welche zeitlichen Differenzierungen lassen sich zwischen Ende des Mittelalters und der Revolutionsepoche erkennen?

III.

Auf der anderen Seite ist die Publikation oder Kundmachung von Normen als ein wesentliches Merkmal des Eintretens der Rechtskraft ein noch wenig erforschtes Feld:

  • Wie wurde die materielle Publikation tatsächlich gehandhabt?
  • Wer war dafür zuständig: Bürgermeister, Amtleute, Pfarrer?
  • Ist die Publikation an bestimmte Orte oder Anlässe gebunden (Taiding, Bürgerversammlung, Kirche, Gottesdienst, Rügegericht, …)?
  • Wie verfahren Amtleute mit der praktischen Publikation: Ausrufen, Anschlag, Verlesen bei bestimmten Gelegenheiten? Wie geschieht ihre Verbreitung im Druck und wer ist daran beteiligt (Drucker, Intelligenzblätter, Auflagenzahlen, Buchhandlungen, Boten und Post)?
  • Was bedeutet eine wiederholte Publikation eines Gesetzes für die Bewertung seiner Durchsetzung?
  • Wie schaut das Zusammenspiel von Kirche und Staat hierbei aus (Pfarrer als staatliche Beamte, Genehmigungspflicht für kirchenrechtliche Normen)?
  • Wie erlangten die Untertanen von den Normen Kenntnis? Wie lange dauerte es, bis der Inhalt von Normen sie erreicht hat? Gibt es Regelungen, die etwa Dorfschulzen oder Hausväter verpflichten, sich über geltende Ordnungen zu unterrichten bzw. die in gedruckter Form zu kaufen?
  • Seit wann wird das „materielle“ Publikationsprinzip (Geltung ab tatsächlicher Normkenntnis) vom „formellen“ (Geltung ab Publikation im Gesetzblatt und damit Legalfiktion einer Normkenntnis) abgelöst?
  • Wie verhindert man durch Gravamina und Supplikationen die Rechtskraft einer Norm auch nach ihrer Verkündung?
  • Rezeption durch Amtsträger.
  • Verfahren der Anwendung, Nicht-Anwendung und Durchsetzung im Einzelfall.
  • Wie werden einmal erlassene Normen für die Verwaltungspraxis archiviert und gegebenenfalls erschlossen (Kanzlei, Registratur, Archiv)? Seit wann bestehen Privatsammlungen von normativen Texten (sowohl als Originalsammlung als auch in Editionen) und aus welchem Grund sind sie entstanden? Seit wann werden sie durch offizielle Gesetzessammlungen abgelöst?

Wer Interesse an der Präsentation von Forschungsergebnissen zu diesem Thema hat, möge sich bitte bei den Organisatoren melden.

Zum Themenbereich siehe jüngst vor allem:

  • Härter, Karl: Entwicklung und Funktion der Policeygesetzgebung des heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation im 16. Jahrhundert, Ius Commune 20 (1993), S. 61-114.
  • Michael Stolleis (Hrsg.)Policey im Europa der frühen Neuzeit, Frankfurt 1996, S. 163-211.
  • Blickle, Peter: Conclusion; in: Peter Blickle (Hrsg.), Resistance, Representation and Community (The origins of modern State in Europe E), Oxford 1997.
  • Martin Dinges, Normsetzung als Praxis? Oder: Warum werden die Normen zur Sachkultur und zum Verhalten so häufig wiederholt und was bedeutet dies für den Prozeß der „Spezialdisziplinierung“?, in: Gerhard Jaritz (Hrsg.), Norm und Praxis im Alltag des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Internationales Round-Table-Gespräch Krems an der Donau 1996 (= Forschungen des Instituts für Realienkunde des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Diskussionen und Materialien 2), Wien 1997, S. 39–53.
  • Jürgen Schlumbohm, Gesetze, die nicht durchgeführt werden – ein Strukturmerkmal des frühneuzeitlichen Staates, in: Geschichte und Gesellschaft 23 (1997), S. 647–663.
  • Miloš Vec, Alles halb so wild. Frühneuzeitliche Staatsräson: Die besten Gesetze sind die, die nicht durchgesetzt werden, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Mittwoch, 11. Februar 1998, Nr. 35, S. N6. [hier als e-Text]
  • Matthias Weber, Bereitwillig gelebte Sozialdisziplinierung? Das funktionale System der Polizeiordnungen im 16. und 17. Jahrhundert, in: ZRG GA 115 (1998), S. 420–440.
  • Barbara Dölemeyer / Diethelm Klippel (Hrsg.): Gesetz und Gesetzgebung im Europa der Frühen Neuzeit, Berlin 1998.
  • Härter, Karl: Social Control and Enforcement of Police-Ordinances in Early Modern Criminal Procedure; in: Heinz Schilling (Hrsg.), Institutionen, Instrumente und Akteure sozialer Kontrolle und Disziplinierung im frühneuzeitlichen Europa, Frankfurt am Main 1999, S. 39-64.
  • André Holenstein, Die Umstände der Normen – die Normen der Umstände. Policeyordnungen im kommunikativen Handeln von Verwaltung und lokaler Gesellschaft im Ancien Régime, in: Karl Härter (Hrsg.), Policey und frühneuzeitliche Gesellschaft (= Ius Commune, Sonderhefte 129), Frankfurt am Main 2000, S. 1–46.
  • Julia Maurer, Policeygesetzgebung und Verwaltungspraxis in Baden-Durlach im 18. Jahrhundert; in: Karl Härter (Hrsg.), Policey und frühneuzeitliche Gesellschaft, Frankfurt 2000, S. 453-472.
  • Karl Härter (Hrsg.), Policey und frühneuzeitliche Gesellschaft (= Ius Commune, Sonderhefte 129), Frankfurt am Main 2000.
  • Karl Härter, Soziale Disziplinierung durch Strafe? Intentionen frühneuzeitlicher Policeyordnungen und staatliche Sanktionspraxis, in: ZHF 26 (1999), S. 365–379.
  • Achim Landwehr, „Normdurchsetzung“ in der Frühen Neuzeit? Kritik eines Begriffs, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 48 (2000), S. 146–162.
  • Michael Stolleis, Was bedeutet Normdurchsetzung bei Policeyordnungen der frühen Neuzeit, in: Richard H. Helmholtz – Paul Mikat – Jörg Müller – Michael Stolleis (Hrsg.), Grundlagen des Rechts. Festschrift für Peter Landau zum 65. Geburtstag (= Rechts- und Staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft NF 91), Paderborn 2000, S. 739–757.
  • Wolfgang Neurath, Regierungsmentalität und Policey. Technologien der Glückseligkeit im Zeitalter der Vernunft, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 11 (2000) 4ff.

Tagungsberichte zur 5. Diskussionsrunde

  • Tagungsbericht Nr. 48 vom 19.6.2002 (Frank Konersmann) der Arbeitsgemeinschaft außeruniversitärer historischer Forschungseinrichtungen in der Bundesrepublik Deutschland e.V. (AHF) [Pdf-Datei: AHF-Tagungsbericht 48/2002]
  • Tagungsbericht vom 30.5.2002 (Gerd Sälter) bei der Historikermailingliste H-SOZ-KULT.